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Woher kommt Fibromyalgie?
Fibromyalgie ist eine Erkrankung, die sich vor allem durch viele Fragezeichen auszeichnet: Was sind die Ursachen? Welche Mechanismen liegen zugrunde? Handelt es sich überhaupt um eine einzelne Erkrankung, oder gar um mehrere? Wie kann man sie diagnostizieren? Was kann getan werden, um den Betroffenen zu helfen?
Keine der Fragen lässt sich bisher klar beantworten. Dementsprechend wandern die Patienten oft jahrelang von Arzt zu Arzt, bis sie schließlich die korrekte Diagnose erhalten. Schlimmstenfalls werden ihre Schmerzen sogar als Hypochondrie abgetan.
Dabei ist die Krankheit keinesfalls selten oder sehr exotisch: In Deutschland sind geschätzt eine Millionen Menschen betroffen.
Die Schmerzen sind das zentrale Merkmal von Fibromyalgie. Sie sind vor allem in Muskeln und Gelenken lokalisiert. Dabei werden 18 typische Lokalisationen, an Sehenansätzen von Muskeln, als ‚tender points‘ bezeichnets. Diese 18 tender points sind ein Hilfmittel, um Fibromyalgie zu diagnostizieren. Betroffene reagieren schmerzempfindlich auf Druck an vielen dieser Stellen.
Zu den Schmerzen kommen dann noch allgemeinere Symptome wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Kreislaufbeschwerden und mehr – die Liste ist enorm lang.
Sicherlich am Schlimmsten für die Betroffenen ist, dass es bisher noch keine gezielten Behandlungsmöglichkeiten gibt. Zwar ist die Krankheit nicht tödlich, aber Sie kann die Lebensqualität stark mindern.
Um jedoch gezielt behandeln zu können, muss zunächst herausgefunden werden, welche Mechanismen der Erkrankung zugrunde liegen. Bisher weiß man nur wenig über die Ursache. Allerdings geben einige Studien Hinweise und es gibt diverse Theorien. Im weiteren stellen wir Ihnen die aktuelle Forschungslage zu Fibromyalgie vor.
Veränderungen im Muskelgewebe
Da die Schmerzen vor allem in den Muskeln auftreten, liegt es nahe, an Ort und Stelle nach dem Problem zu suchen. Einige Forschergruppen haben genau das gemacht und herausgefunden, dass sich bei Fibromyalgiepatienten weniger Adenosintriphosphat (ATP) in den Muskelzellen befindet.
ATP ist unumgänglich für den Zellstoffwechsel und den Stoffwechsel des Körpers insgesamt. Mit diesem Stoff speichert der Körper Energie und macht Energie auf diese Weise transportierbar. Es handelt sich sozusagen um die Batterien des Körpers.
Das Problem der erwähnten Studien ist nun: Es wurde nicht darauf geachtet, die Kontrollgruppen richtig auszuwählen. Kontrollgruppen sind ein wichtiges Merkmal einer korrekt durchgeführten wissenschaftlichen Studie. Sie liefern Vergleichswerte, ohne die es unmöglich wäre, die gemessenen Ergebnisse zu interpretieren. Wenn etwa ein Medikament getestet wird, muss es immer auch eine Kontrollgruppe geben, die nur ein Placebo erhält, damit man ausschließen kann, dass die Wirkung des Medikaments nur auf dem Placebo-Effekt basiert.
Dabei hat man den Vorteil, eine Gruppe von Kranken zufällig in zwei Gruppen aufzuteilen und der einen das echte Medikament und der anderen das Placebo zu geben (übrigens wissen alle Patienten, die bei so einer Studie mitmachen, Bescheid, dass die Möglichkeit besteht, dass sie nur das Placebo erhalten).
Misst man bestimmte Laborwerte (zum Beispiel Blutwerte) bei Kranken, braucht man diese Werte auch von Gesunden, um sie miteinander vergleichen zu können. Hierbei besteht nun nicht mehr die Möglichkeit, die Gruppe zufällig aufzuteilen, denn man will ja gezielt Kranke mit Gesunden vergleichen. Deswegen ist es wichtig, verschiedene Parameter der beiden Gruppen gegeneinander abzugleichen.
Zum Beispiel müssen beide Gruppen im Schnitt das selbe Alter haben. Wenn die Kranken zufällig im Schnitt älter als die Gesunden wären, dann wäre nicht mehr klar, ob Unterschiede in den Laborwerten von der Krankheit oder einfach durch den Altersunterschied kommen.
Einen ähnlichen Fehler haben die Forscher gemacht, die verringerte ATP-Werte in den Muskeln von Fibromyalgie-Patienten fanden. Sie haben vergessen, dass sie die Fitness und die tägliche Bewegung von Patienten und Gesunden abgleichen müssen. Fibromyalgie-Patienten bewegen sich nämlich wegen der Schmerzen im Schnitt weniger als Gesunde, und betreiben weniger Sport. Damit lässt sich das veränderte ATP-Niveau problemlos erklären. Deswegen wurde diese Theorie mittlerweile verworfen, zumal eine Studie, die die Fitness der Kontrollgruppe an die Patienten anglich, den Unterschied nicht finden konnte.
Veränderungen im zentralen Nervensystem
Viel deutet darauf hin, dass die Ursache von Fibromyalgie im zentralen Nervensystem zu suchen ist: Also im Gehirn oder im Rückenmark.
Es hat auf jeden Fall den Anschein, als ob sich die neuronale Verarbeitung von Schmerzen bei Menschen mit Fibromyalgie und bei Gesunden unterschiedlich gestalten. Ein Hinweis darauf zeigt sich in Studien, die bildgebende Verfahren benutzen, mit denen der Blutfluss im Gehirn sichtbar gemacht wird. Von hohem Blutfluss wird dann auf eine größere Aktivität in der jeweiligen Gehirnregion geschlossen.
Bei Menschen mit Fibromyalgie findet sich in Gehirnarealen, die als wichtig für Schmerzwahrnehmung und -verarbeitung angesehen werden eine erhöhte Aktivität – und zwar bei Schmerzen und im schmerzlosen Zustand.
Die Wahrnehmung von Schmerz ist subjektiv. Die Nervenfasern senden Signale an das Gehirn und je nach dem, wie das Gehirn diese Signale verarbeitet, kann der Schmerzreiz völlig unterschiedlich wahrgenommen werden.
Zum Beispiel kann das Gehirn Schmerzen weitgehend unterdrücken, etwa im Schockzustand. Auf der anderen Seite des Spektrums kann das Gehirn Schmerzen wahrnehmen, die objektiv gesehen nicht existieren können, etwa beim Phantomschmerz: Hier empfinden die Betroffenen Schmerzen in amputierten Körperteilen.
Eine Möglichkeit, wie es zu Fibromyalgie kommen könnte, ist dass die Schmerzen verstärkt wahrgenommen werden. Dazu kommt dann noch, dass bei chronischen Schmerzen die Schmerzschwelle sinkt: Schmerzen werden also schneller und verstärkt wahrgenommen. Man vermutet, dass dieser Verstärkereffekt zum Teil schon auf der Ebene des Rückenmarks stattfindet, die genauen Mechanismen sind aber noch unklar.
Eine andere Theorie besagt, dass die Hemmung von Schmerzen gestört ist. Das würde dann die andere Signalrichtung vom Gehirn zu den Nervenenden betreffen, während die Schmerzverstärkung sich auf die Signale von den Nervenenden zum Gehirn bezieht. Man vermutet, dass bei der gestörten Schmerzhemmung die Gliaziallen, die die Nervenzellen in einer Art Schutzhülle umgeben, eine zentrale Rolle spielen.
Es gibt außerdem Untersuchungen zur Rolle von Neurotransmittern bei Fibromyalgie. Neurotransmitter sind Stoffe, die Nervensignale übertragen. Innerhalb einer Nervenzelle wird das Signal elektrisch transportiert. Im Übergang von einer Nervenzelle zur anderen, in einer sogenannten Synapse, wird auf ein biochemisches System gewechselt:
Wenn der elektrische Impuls des Signals am Ende der einen Nervenzelle ankommt, bewirkt er dort die Ausschüttung des Neurotransmitters. Dieser durchquert den Spalt zwischen den beiden Nervenzellen und dockt an den speziellen Rezeptoren der anderen Nervenzelle an. Das bewirkt wiederum einen elektrischen Impuls in dieser Nervenzelle.
Solche Neurotransmitter sind zum Beispiel Dopamin und Serotonin. Serotonin ist unter anderem für die Schmerzverarbeitung und die Schmerzhemmung zuständig. Bei Fibromyalgie-Patienten wurde nun in einigen Studien ein verminderter Serotoningehalt im Blut gefunden. Allerdings kann man davon nicht unbedingt auf den Serotoningehalt im Gehirn schließen, deswegen sind diese Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren.
Es gibt auch eine kleine Studie, die eine veränderte Dopamin-Sensitivität bei Fibromyalgie-Patienten fand, hier sollte man jedoch noch abwarten, bis es weitere Ergebnisse in diese Richtung gibt.
Psychiatrische Aspekte
Betroffene von Fibromyalgie erkranken häufiger an psychiatrischen Leiden, wie Depressionen oder Angstzuständen, als Gesunde. Daher vermuten einige Forscher einen Zusammenhang zwischen psychiatrischen Erkrankungen und Fibromyalgie.
Eine Theorie konzentriert sich dabei auf psychologisch traumatische Erlebnisse . So findet sich zum Beispiel bei Betroffenen, die in der Vergangenheit ein psychologisches Trauma erlebt haben, eine größere Anzahl an tender points. Etwa 50 Prozent der Patienten mit Fibromyalgie zeigen auch Symptome von posttraumatischer Belastungsstörung.
Auch zwischen Depressionen und Fibromyalgie wird eine Verbindung gesehen. Kein Wunder, denn es besteht eine enge Verknüpfung zwischen Schmerz und Depressionen. Beide verstärken sich gegenseitig: Unter Schmerzen wird die Depression als schlimmer empfunden und die Depression verstärkt die Wahrnehmung der Schmerzen. Bei Depressionen vermutet man ebenfalls ein Fehlen oder eine verringerte Funktionalität des Neurotransmitters Serotonin. Die Studienergebnisse dazu sind jedoch teilweise widersprüchlich.
Weitere Faktoren
Neben den bisher genannten Punkten, bei denen man zumindest im Ansatz eine Idee hat, wie der Zusammenhang mit Fibromyalgie aussieht, gibt es noch einige andere Faktoren, bei denen die Forschungslage und die Mechanismen noch unklarer sind:
- Genetische Faktoren. In manchen Familien tritt die Erkrankung gehäuft auf, was auf eine erbliche Komponente hindeutet.
- Physische Traumata. Einige Studien deuten darauf hin, das physische Traumata, wie Unfälle und schwere Verletzungen, eine Fibromyalgie hervorrufen könnten.
- Virale Infektionen. Es könnte einen Zusammenhang zwischen Viren und Fibromyalgie geben. Zum Beispiel entwickelt sich bei HIV-positiven Menschen häufiger eine Fibromyalgie als bei Menschen ohne HIV.
Eins davon? Oder alle auf einmal?
Die hier dargestellten Theorien schließen sich keinesfalls gegenseitig aus. Einige beschreiben die Ursache möglicherweise auf einer anderen Ebene. Zum Beispiel besteht die Möglichkeit, dass ein psychologisches Trauma eine verstärkte Schmerzwahrnehmung im Gehirn auslöst.
Die verstärkte Schmerzwahrnehmung könnte außerdem problemlos mit der verminderten Schmerzhemmung einhergehen. Möglicherweise müssen mehrere dieser Ursachen und Faktoren zusammenkommen, damit eine Fibromyalgie entsteht.
Eines steht fest: Die Forschung hat noch viel zu erkunden, was Fibromyalgie und ihre Ursachen angeht.